Wir sind nicht erstaunt vom Verlauf, den die Demonstration aus VerschwörungsideologInnen, New Age CoronachauvinistInnen, rechtsradikalen Hooligans und der rechten „Mitte“ der Gesellschaft am 07.11 genommen hat. Vorweg: Wir fordern keinen „starken Staat“ gegen Veranstaltungen wie die am Wochenende. Wir versuchen, das Ungleichgewicht und die Unverhältnismäßigkeit der Polizeieinsätze gegen rechte und linke Demonstrationen herauszustellen.
Wochenlang wurde von mehr oder weniger bekannten VerschwörungsideologInnen, Rechtsextremen, Parteien wie der AfD oder der NPD und totgeglaubten Gruppen wie Legida zu einer Großdemo auf dem Leipziger Augustusplatz mobilisert. Nachdem die Stadt und das Leipziger Verwaltungsgericht für eine Verlegung auf die Neue Messe stimmten, erlaubte das OVG Bautzen kurzfristig am Samstag Morgen die Kundgebung gegen die Coronamaßnahmen auf dem Augustusplatz. Ob eine andere Entscheidung des OVG die CoronachauvinistInnen aufgehalten hätte, ist mehr als fraglich. Bereits in den Tagen und Wochen vor der Veranstaltung wurde dazu aufgerufen, gegen die vorgegebenen Auflagen zu verstoßen: keine Masken tragen, gefälschte Atteste, keine Abstände, angebliche Geschäftsreisen und eine Demo über den Ring. Die Polizei hatte das Geschehen von Anfang nicht kontrollieren können – oder, was wir für wahrscheinlicher halten, nicht kontrollieren wollen. Im Vorfeld zur Demonstration konnten wir im gesamten Stadtgebiet ein stark erhöhtes Aufkommen von Autos und DemonstrantInnen aus dem ganzen Bundesgebiet wahrnehmen. Viele der CoronachauvinistInnen reisten aus Baden-Würtenberg, Bayern und NRW an. Die Zusammensetzung war durchaus von Auswärtigen bestimmt. Dazu kommen noch viele zugereiste CoronachauvinistInnen, die aus dem Landkreis Leipzig und aus dem ländlichen Sachsen anreisten. Ihre bundesweite Mobilisierung, die nach und nach verschiedene Städte trifft, soll das Bild vermitteln, sie würden so etwas wie eine Mehrheit in den jeweiligen Städten vertreten. Das ist natürlich Propaganda und Quatsch. Wenn sie etwas vertreten, dann die Mehrheit der Neu-Infektionen und die Verantwortung für eine gesteigerte Übersterblichkeit in den nächsten Tagen und Wochen. So wie sie in Berlin keine Millionen Leute waren, so wie sie in München keine Revolution gestartet haben, so wenig haben sie Leipzig „erobert“. Außerdem konnten wir Gruppen von ganz klar Rechtsradikalen erkennen, die sich versammelten und in Gruppen durch die Stadt zogen. Es gab mehrere Kundgebungen auf denen rechtsradikale Inhalte, gemischt mit esoterischer Rhetorik, verbreitet wurden. Zur Kundgebung auf dem Augustusplatz fanden sich laut Durchgezählt rund 45.000 dieser Leute ein.¹
Nachdem die Kundgebung gegen 15:30 Uhr wegen zahlreichen Verstößen gegen die Auflagen (Überraschung!) für beendet erklärt wurde, formierte sich ein Demozug, angeführt von mindestens 100 offensichtlich gewaltbereiten RechtsextremistInnen und Hooligans. Darunter befand sich auch eine Gruppe Hooligans um Benjamin Brinsa, die sich aus dem Umfeld von Lok Leipzig und Lazio Rom zusammensetzten.² Nachdem in der Nähe des Wintergartenhochhauses und des Hauptbahnhofs mehrmals die Polizeiketten durchbrochen, angegriffen und mit Pyrotechnik und Flaschen beworfen wurden, gab die Polizei offensichtlich auf und ließ tausende CoronachauvinistInnen angeführt von Neonazis um den Ring und durch die Innenstadt ziehen. Begründung: Man habe auf Deeskalation setzen wollen. Im Zuge dessen wurden Journalist*innen, Antifaschist*innen und andere von Neonazis durch die Straßen gejagt und verprügelt.³ Die Polizei stand daneben und sah zu, einer zeigte der Menge aus dem Lautsprecherwagen den Daumen hoch⁴, der Gegenprotest am Roßplatz wurde grundlos gekesselt. Dafür waren anscheinend genug Einheiten verfügbar.
Schweres Gerät in Form von mindestens zwei Räumpanzern und vier Wasserwerfern waren hingegen in geringer Distanz zu Connewitz an der Pferderennbahn abgeparkt. Wir sind überzeugt: hätte es sich um eine linke Demonstration auf dem Ring gehandelt, hätte die Polizeileitung nicht gezögert, diese Gerätschaften einzusetzen. Und tatsächlich kamen Wasserwerfer und Räumpanzer dann am Abend in Connewitz zum Einsatz, um Antifaschist*innen, die ihre Projekte und Freund*innen vor einem angekündigten Naziüberfall schützen wollten, zu drangsalieren. Am Sonntag war die Polizei dann wieder mit gewohnt wenigen Kräften bei der Kundgebung der CoronachauvinistInnen am Völkerschlachtdenkmal. Ohne Maske konzentrierten sie sich dort vor allem auf die Festnahme von angegriffenen Journalist*innen und das Lesen von verschwörungstheoretischen Flyern.⁵ In der anschließenden Pressekonferenz des Ministerpräsidenten und des Innenministers verurteilte man hauptsächlich die
„Ausschreitungen“ in Connewitz und lobte das großartige Vorgehen der Polizei. Zu den Ereignissen in der Innenstadt verlor man jedoch kein Wort.⁶ Wir müssen davon augehen, dass hier bewusst gelogen wurde. Funfact: Kurz vor der Pressekonferenz hatte Ministerpräsident Kretschmer Kontakt zu einer Person, die nachweislich positiv auf das Corona-Virus getestet wurde. Quarantäne? Fehlanzeige!⁷
Wieso war eine solche Veranstaltung und die daran anschließenden Ausschreitungen gerade hier möglich?
Warum wurde diese Veranstaltung genehmigt, während Gedenkdemonstrationen in Hanau oder zum 09.11. aus Infektionsschutzgründen abgesagt werden? Das liegt zum einen an den politischen Gegebenheiten im Bundesland Sachsen, dessen Polizei und der Polizeibehörde Leipzig. Dazu kommt die Mobilisierungskraft in rechtsradikalen und Hooligankreisen, die vor Jahren schon als Teil von „Legida“ (=1A Faschistenpack) hier durch unsere Stadt zogen und (auch im Zusammenspiel mit der Polizei) versuchten, ihren Terror auf die Straße zu bringen. Dass es in der Polizei allgemein und konkret in Sachsen und Leipzig Sympathie für, und Kontake mit, Rechtsradikalen gibt, ist bekannt.⁸ Wenn rechtsextreme Mörder durch verwandte Polizisten vor Hausdurchsuchungen gewarnt werden (siehe Kamal K.) und Polizisten sich in Namenslisten mit den Namen der NSU-Terroristen eintragen, wird deutlich, wo deren Sympathien liegen.⁹ Wenn es für die Rechten und Nazis Verständnis und Rosenblätter gibt, gibt es für Linke, Autonome und Alternative Hass, Gewalt und Verachtung. Wir haben die Misshandlung einiger junger Menschen auf dem Polizeiposten in Connewitz nicht vergessen.¹⁰ Dieser Vorfall wurde nie richtig aufgeklärt.
Zu lange ist die Liste der sogenannten Einzelfälle, um sie hier vollständig vorzulegen. Aus unserer Sicht ist klar: die Cops sind auf dem rechten Auge blind. Wir müssen dazu nur die Pressemitteilungen vom 07.11 und von bspw. Silvester letzten Jahres vergleichen. Schnell zeigt sich: rechte Gewalt wird verharmlost, Journalist*innen werden so zur Zielscheibe. Linke Gewalt wird aufgebauscht und es soll das Bild vermittelt werden, dass die Cops hier um ihr Leben fürchten müssen. Aus einer Verletzung am Ohrläppchen wird so eine „Notoperation“.¹¹ Hinter der Kommunikationstrategie oder Polizei steht ein politisches Kalkül. Repressionschläge gegen die linke Bewegung sollen legitimiert werden, während systematisch rechte Netzwerke verharmlost und totgeschwiegen werden.
Für uns ist klar: wäre am 07.11. eine linke Demonstration nach offizieller Auflösung durch die Ordnungsbehörden um den Ring gelaufen, hätten die Cops ihr teures Spielzeug auffahren lassen. Es hätte Tränengas (wie z. B. nach der Räumung der Luwi), Räumfahrzeuge und Wasserwerfer (wie später am 07.11.) und einen Knüppeleinsatz (wie bspw. bei den Gegenprotesten zu Legida) gegeben.
Auch gehen wir davon aus, dass den verantworlichen Stellen eine Öffentlichkeitsfahndung im Stil der G20 Proteste nicht in den Sinn kommt. Schließlich ist das Interesse an der Verfolung rechter StraftäterInnen mit dem Verfolgungswahn auf linke Strukturen nicht vergleichbar. Erst am 05.11. gab es in Connewitz zwei Hausdurchsuchungen, die in die Verhaftung unserer Genossin Lina mündeten.¹² Von den hunderten untergetauchten Neonazis hat die Polizei angeblich weiter keine Spur.
Wenn hier von den Verantwortlichen davon gesprochen wird, dass ein Wasserwerfereinsatz oder auch nur der Einsatz von körperlicher Gewalt als unmittelbarer Zwang, nicht verhältnismäßig gewesen wäre, weil die Versammlung ja größtenteils aus friedlichen Rentnern und Kindern bestanden hätte, ist das entweder planlos oder vorsätzlich falsch. Die vorderen Reihen bestanden aus gewaltsuchenden erwachsenen Männern¹³, die Journalist*innen, Antifas und sogar Polizist*innen angriffen. Wir kennen die Polizei nach Angriffen auf sich selbst sonst als nicht so zimperlich.
Auch die komplette Weigerung dem siegestrunken feiernden Mob in der Innenstadt einhalt zu gebieten, geschweige denn mal ein paar Verstöße gegen die CoronaSchutzVerordnung aufzunehmen, sagt viel über die Prioritätensetzung der Einsatzleitung an diesem Tag aus. Denn in Connewitz war sich die Polizei nicht zu blöd, nachdem sie den Nazis in der Innenstadt alles hat durchgehen lassen, mal so richtig zu zeigen, was man eigentlich alles als Verstoß gegen die Verordnungen ahnden kann. So wurden nachts in Connewitz noch 140 Ordnungswidrigkeiten geahndet, während man tagsüber in der Innenstadt keine einzige Ordnungswidrigkeit verfolgte. Wir schreien nicht nach einem starken Staat. Allerdings ist die Polizei theoretisch an das Gleichbehandlungsgebot gebunden. Sie müsste, um rechtsstaatskonform zu agieren, alle gleich behandeln. Wenn aber Nazis, Hools, und Coronachauvis in Ruhe gelassen oder sogar bestärkt werden, weil man das Recht nicht gegen sie durchsetzen könne (mit 3000 Cops und 4 Wasserwerfern in der Stadt eher unglaubwürdig), dann überrascht es doch sehr (falls man noch an diese Gebote der Rechtsstaatlichkeit glaubt), wenn dann auf einmal mehrere Hundertschaften da sind, um eine Gegenkundgebung, die komplett friedlich war, zu kesseln und nachts schweres Gerät in Connewitz zum Einsatz kommt.
Wir warnen an dieser Stelle ausdrücklich vor einer rechten Hegemonie in den sächsischen „Sicherheits“behörden. Im Zusammenhang mit den Erkenntnissen aus dem Hannibal-Skandal und den Uniter-Verzweigungen in der ganzen BRD rückt die Möglichkeit einer rechten Machtübernahme durch Gewalt immer näher. Es braucht ein entschiedenes Einschreiten von links, aus der Mitte der Gesellschaft und eine Thematisierung durch die Medien um dieses Szenario zu verunmöglichen. Wir appellieren hier ebenfalls an die liberal-demokratischen Schichten ihre Zuschauerplätze zu verlassen und sich einzumischen. Wir wissen das es wenig verändern wird, aber trotzdem forden wir Konsequenzen für die Verantwortlichen. Nach verschiedenen Skandalen um die sächsische und speziell um die Leipziger Polizei, wie etwa der Fahrradskandal, Verstrickungen mit rechten Akteuren, Gewaltexzessen etc., ist es an der Zeit, Roland Wöller und Torsten Schulze zum Rücktritt aufzuforden.
Viel Kraft wünschen wir den Genoss*innen, die nach Samstag Repression zu erwarten haben. Danke an alle, die Samstag Nacht dafür gesorgt haben, dass die FaschistInnen, wenn sie versucht hätten, wieder in Connewitz einzufallen, auf Widerstand gestoßen wären.
Rechten Terror bekämpfen!
Defund the police!
Freiheit für Lina und alle anderen!
Fight for your future!
Anmerkung: Wir sprechen uns klar gegen die von Innenminister Wöller geforderte Einschränkung des Versammlungsrechts aufgrund der Corona-Pandemie aus. Außerdem halten wir es für notwendig, die Corona-Maßnahmen kritisch zu hinterfragen. Trotzdem sind wir uns der Gefahr, die von dem Corona-Virus für die Bevölkerung ausgeht, bewusst und versuchen, die Verbreitung so gut wie möglich einzudämmen.
CoronachauvinistInnen: Menschen die auf die Gesundheit anderer scheißen um ihre von antisemitischen, rassistischen und autoritären Verschwörungsideologien triefende politische Einstellung in einer Art „Kulturkampf“ gegen die demokratische, liberale und linke bis linksradikale Bevölkerung durchzusetzen.
Wir verwenden bei rechten TäterInnen das Binnen-I, da es laut ihrer Ideologie/Selbstverständnis lediglich zwei biologische Geschlechter gibt. Das „*“ verwenden wir bei allen weiteren Akteur*innen, um die in der Gesellschaft verankerte Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit aufzubrechen.
¹ Angaben von Durchgezählt: https://twitter.com/durchgezaehlt/status/1325089227529400320?s=20
² Beteiligung von Brinsa & Co.: https://twitter.com/fussballterror/status/1325203931752902663?s=20
³ Angriffe auf Journalist*innen: https://twitter.com/JFDA_eV/status/1325108548485967880?s=20
⁴ Daumen Hoch der Polizei: https://twitter.com/shelly_pond/status/1325162046330171392?s=20
⁵ Festnahme von Journalist*innen: https://twitter.com/simon_brgr/status/1325396021158039558?s=20
⁶ Pressekonferenz des Ministerpräsidenten und des Innenministers: https://www.youtube.com/watch?v=DEgdY1xQeNU&feature=youtu.be
⁷ Kretschmers Kontakt zu positiv getestetem Abgeordneten: https://twitter.com/WDRaktuell/status/1325775190069026816?s=20
⁸ Verbindungen der Polizei Leipzig zu einem NPD-Kader: https://www.hintergrund.de/politik/inland/leipzig-leaks-polizisten-pflegen-kontakte-in-die-neonazi-szene/
⁹ Namen der NSU-Terroristen in Namensliste: https://www.abendblatt.de/politik/article215444955/Deckname-Uwe-Boenhardt-Saechsische-Polizei-unter-Druck.html
¹⁰ Misshandlung von Jugendlichen in Connewitz durch die Polizei: https://www.lvz.de/Leipzig/Polizeiticker/Polizeiticker-Leipzig/Sprayer-Affaere-in-Connewitz-Ermittlungen-dauern-an
¹¹ Ereignisse von Silvester: https://taz.de/Gewalt-in-Leipzig-Connewitz-an-Silvester/!5650003/
¹² Hausdurchsuchungen und Festnahme in Connewitz: https://freiheitfuerlina.noblogs.org/
¹³ Erste Reihen: https://twitter.com/tiisbosbi/status/1325737298537885697?s=20